Initiiert: Rituale und Spielchen (Woche 9)

Taufe

Darstellung der Taufe Christi am Baptisterium San Giovanni in Florenz. Foto: Jebulon/CC0 1.0

Frieren, spielen, dazugehören: In dieser Woche wohne ich einer Art sadistischem Kindergeburtstag bei und werde – wohl im wörtlichen Sinn – zu einer waschechten Konviktorin. Neben der „Taufe“ von Internat-Neuligen lerne ich eine vielversprechende Geschäftsidee sowie einen geschichtsträchtigen Ort kennen und erfahre, dass es nur einen Menschen gibt, dem man ernsthaft „auf Wiedersehen“ sagen kann.

Moment der Woche: Die „Taufe“

Gemeinsam mit 14 weiteren Konvikt-Neulingen erlebe ich am Donnerstagabend die obligatorische „Taufe“ durch die angestammten Konviktoren: ein Initiationsritual, atmosphärisch angesiedelt irgendwo zwischen Geheimbund-Aufnahme, Kindergeburtstag, militärischem Drill, Vorstufe zur Pausenhof-Schlägerei und sadistischer Gameshow. Wichtiges Zubehör der Zeremonie: gekochte Eier, ein Springseil, ein Basketball, ein paar Stühle und Wasser.

Da angesichts der minderjährigen Zielgruppe Alkohol für Bewährungsproben ausscheidet, hat man sich für Wasser entschieden – viel Wasser, das sich aus Schläuchen, Eimern und Wasserbomben auf die Neulinge im Hof ergießt. Nach einer Dreiviertelstunde Frieren bei Spielchen verlassen alle Neulinge geprüft und bis auf die Unterwäsche durchnässt den Hof des Internats. (Wenig überraschend: Am nächsten Tag sind Schnupfen und Husten zurück.)

„Sehnsucht“ nach Ritualen
Pilot

Schikane beim Französischen Heer: Bizutage eines Piloten. Foto: Pierre Boureau

Das gesamte Ritual wird zurückhaltend „beaufsichtigt“ durch den Pfarrer und einen Pädagogen des Hauses. Wieder einmal bin ich froh, keine pädagogische Verantwortung zu tragen – und nicht entscheiden zu müssen, was „noch in Ordnung“ ist und was nicht.

Nachbereitend lese ich am Freitag über erniedrigende Initiationsrituale im französischen Hochschulmilieu (die seit 1998 verboten sind und mit bis zu sechs Monaten Gefängnis geahndet werden: Bizutage), über den Buchdruckerbrauch Gautschen (bei dem der Lehrling nach bestandener Abschlussprüfung ebenfalls zumindest am Hinterteil durchnässt werden muss) sowie über traditionsreiche Initiationsrituale an einer 500 Jahre alten Schule im sächsichen Grimma.

Jugendliche

Frisch initiierte Jungen im nördlichen Kamerun. Foto: Zeratime/CC BY-SA 3.0

„Obwohl gegenwärtig die Sinn- und Zweckleere von traditionellen Ritualen mehr und mehr erkannt ist, scheint das Bedürfnis nach rituellen Zeremonien ungebrochen oder gar anzusteigen. […] Rituale und deren Diskussion sind (wieder) en vogue“, schrieb vor 15 Jahren der mittlerweile emeritierte Soziologie-Professor Hartmut M. Griese zu Übergangsritualen im Jugendalter in Deutschland. Er beobachtet sogar eine „Sehnsucht“ nach bzw. eine „Renaissance“ von Ritualen.

Geste der Woche

  • „Entschuldigung“, sagt eine Konviktorin, bevor sie bei meiner „Taufe“ einen Eimer kaltes Wasser über mich ausschüttet. (Meine Kleider sind bereits davor klitschnass.)

Ort der Woche: Die Pulverfabrik

  • Früher wurden in der Pulverfabrik Patronen für Krieg und Jagd hergestellt – die Erfindung des rauchschwachen Schießpulvers durch Max Duttenhofer 1884 brachte internationalen Erfolg, Geld und Macht.
  • Max Duttenhofer, ein echter Machtmensch, gab so manche politische Entscheidung in Auftrag. Damit sein Unternehmen expandieren konnte, sorgte er dafür, dass das Transportverbot für Schießpulver auf der Schiene abgeschafft wurde – und baute ab 1877 einen Fabrikbahnhof, von dem aus das Pulver in alle Welt geschickt wurde.
  • Eine besondere Perversion der Unternehmensgeschichte: Ende des Zweiten Weltkriegs sicherten ausländische Arbeiter 98% der Produktion im Rottweiler Werk.
  • Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die kriegsrelevanten Teile des Werks demontiert und die Jagdpatronenfabrik verlegt – und bis 1994 nur noch Kunstseide sowie Reifencord hergestellt.
  • Heute ist das Areal ein Komplex aus 40 Kulturdenkmälern und wird „umgenutzt“: Bauchtanz für den Beckenboden, Pilates und Fitness, Zahnchirurgie, Versicherungen, Go-Kart, Schreckschusswaffen, Reparatur historischer Fenster, Partys …

 

Geschäftsidee der Woche

  • In der Stuttgarter Königsstraße haben zwei Bettler vier Pappbecher vor sich aufgestellt. Der Beschriftung zufolge kann man sein Kleingeld zweckgebunden spenden: Gras, Puff, LSD oder Essen.

 Zitate der Woche

  • „Abi ist geil.“ (Anonym)
  • „Der Bestatter ist der einzige Mensch, dem ich wirklich ‚Auf Wiedersehen‘ sagen kann.“ (Pfarrer des Konvikts)
  • „Heute ist alles vegetarisch!“ (Beim Mittagsbuffet über die Lachsfilets hinweg gerufen)
Schriftzug

Schriftzug am Nägelesgraben

 

4 Gedanken zu „Initiiert: Rituale und Spielchen (Woche 9)

  1. Liebe Frau Gruber,
    wurde noch nie in diesem 21. Jahrhundert überlegt, ob man diese grauenhaften, sadistischen Taufen abschaffen kann? Frage auch an die Leitung des Konvikts: Welchen pädagogischen Wert soll das wohl haben???
    Alles Gute für den Rest der Rottweiler Tage.
    Mit Vergnügen denke ich an die Schreibwerkstatt.

    • Liebe Frau Heiderich,
      schön, von Ihnen zu lesen! Die Bedenken bezüglich der „Taufe“ werde ich im Konvikt bei Gelegenheit noch einmal ansprechen. (Initiative und Gestaltung liegen ganz bei den Schülern – die Leitung mischt sich da kaum ein, soweit ich weiß, aber freilich duldet sie die „Taufe“.)
      Danke für die guten Wünsche!

  2. Liebe Carola,

    das ist ja gruselig dieses Taufritual! Dürfen die Schüler eigentlich auch die Lehrer taufen? Darüber könnte man wenigstens lachen.

    Ich habe noch einen Tipp gegen Heimweh: Wenn es dich plagt, denk einfach an die Münchner Tramfahrer, an den S-Bahnsteig in München Ost an einem Montagmorgen, an die Damen in der Maximilianstraße …

    Viele Grüße!

    Sabine

    • Liebe Sabine,

      danke, das ist der beste Anti-Heimweh-Tipp, den ich bisher bekommen habe! Funktioniert sofort und sehr effektiv. Klasse! 🙂

      Die Schüler taufen glaube ich auch pädagogische Mitarbeiter des Internats, zumindest die FSJ-ler werden getauft … Immerhin sind die Schüler aber davor zurückgeschreckt, den Pfarrer des Hauses nach Konviktart zu „taufen“ 😉

      Liebe Grüße aus Rottweil,
      Carola

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