Meine vorletzte Woche als Stadtschreiberin in Rottweil – ich genieße das milde Wetter, unternehme einen letzten Ausflug, darf eine Lesung unter luxuriösen Bedingungen gestalten und wundere mich, dass bereits Zeit für die ersten Abschiede ist.
Momente der Woche
- Als eine Konviktorin 32 Minuten nach Beginn des Mittagessens dieses noch nicht beendet hat, bleiben ihre Mitschülerinnen am Dienstag mit ihr am Tisch sitzen (im sonst leeren Speisesaal), begrüßen jeden weiteren Bissen mit einer Laola-Welle und kommentieren das Geschehen zwischen Teller und Mund wie einen sportlichen Wettkampf, so dass die Esserin, rot vor Lachen, immer wieder Pausen einlegen muss und gute Chancen hat, tatsächlich den heraufbeschworenen Rekord in langsamem Essen aufzustellen.
- Bei einem Spaziergang durch Rottweil höre ich die – nach eigener Einschätzung – „traurigste Band der Welt“ Antimatter. Die Musik ist für einen Moment so intensiv beglückend, dass ich fast vergesse, beim Überqueren der Straße nach Autos zu schauen. (Etwa eine halbe Stunde später laufe ich durch eine Landschaft, die das nächste Plattencover der Band zieren könnte – kahle Bäume und stimmungsvoll verfärbter Himmel.)
- Ein frisch umgegrabener Acker weckt meinen Spieltrieb: Die durchgeknetete Erde liegt einladend da – wie eine Aufforderung an Spaziergänger, sich darauf zu stürzen und weiter zu kneten.
- Am Freitag bin ich auf eine private Hauslesung eingeladen. Der Gastgeber hat eigens einen Barkeeper engagiert, der aus meinen Lieblingssäften leckere Cocktails mischt. Eine fantastische Idee!
- Abschiede beginnen: ein letztes Mal Werk AG am Dienstag, eine letzte Schreibwerkstatt am Donnerstag, ein letzter Ausflug am Samstag – es geht nach Tübingen.
Anzeichen von Advent
- Das Wort „Marinepunsch“ fällt nun oft, mittlerweile auch im Zusammenhang mit Verabredungen sowie mit dem Hinweis auf die Auswirkungen am Folgetag.
- Die gelben Zettel an den Briefkästen der Konviktoren mehren sich: „Päckle für Dich im Büro!“.
- Am Mittwochvormittag habe ich den Ohrwurm von „Stille Nacht, heilige Nacht“ (vermutlich im Drogeriemarkt oder auf dem Weihnachtsmarkt gehört).
Aufgeschnappt am Wegrand
- Welke Blüten, die aussehen wie schmutzige (tote) Korallen.
- Hinter dem Schild „Warnung vor dem Hunde“: eine große Rottweilerplastik (von Ottmar Hörl) auf einem Balkon.
- Jemand hat eine Topfpflanze am Wegrand ausgesetzt – und anscheinend vergessen, dass sie, anders als Haustiere, sich nicht selbst fortbewegen kann.
- Einer rothaarigen Frau um die fünfzig gelingt es, abweisend zu grüßen – in der Stimme klingen Misstrauen, Genervtheit und Lassen-Sie-mich-bloß-in-Ruhe mit.
- Poetisches Fundstück: Eine aufgebrochene Geldkassette enthält alte Herbstblätter (ich stelle mir eine Welt vor, in der jemand welke Blätter wie einen Schatz aufbewahren würde).
Anzeichen für milden Winter
- Klare, lange Schatten
- Stille auf den Feldern
- Vögel sitzen gut sichtbar auf kahlen Zweigen, hüpfen und singen zaghaft.
- Haben als einzige noch ihre Blätter: Rhododendron, Eibe, Thuja, Tanne, Fichte, einzelne Hecken, Heidekraut im Blumentopf.
- Jemand hat ein Jacket zum Auslüften vors Fenster gehängt.
- Hinter einer Windschutzscheibe, unter einer Schicht Tauwasser: das Schild „Sommerdienst im Einsatz“.
Verleser der Woche
- „Opawolle“ (statt „Opalwolle“)
- „Urininstitut“ (statt „Uraninstitut“)
Wunderbare Impressionen!
Vielen Dank! Das freut mich 🙂 Der Tipp mit Tübingen kam übrigens von Ulrike – eine sehr gute Idee!
Schade, dass die Zeit schon wieder zu Ende geht! Ich habe deine (man duzt sich doch in den sozialen Netzwerken, nech?) Blogbeiträge immer sehr gerne gelesen. Schließlich finde ich als Exilrottweiler immer spannend, wie meine Heimatstadt auf andere wirkt, und wenn die Dinge dann so wunderbar beobachtet und niedergeschrieben sind, freut mich das umso mehr.
Auch das Konvikt als einer deiner zentralen Beobachtungsorte finde ich spannend – habe da zwar nicht selbst gewohnt, jedoch durchaus des öfteren im Keller des Gebäudes schöne Abende verbracht (Parties, Konzerte etc.)
Eine letzte Anregung: Bitte teile deiner/m Nachfolger/in mit, dass ich mich über eine Schaffensbegleitung in den sozialen Medien sehr freuen würde!
Vielen Dank! Über die Rückmeldung freue ich mich – ist ja lustig, dass Du das Konvikt von innen kennst (wie lange ist das her?).
Die Empfehlung gebe ich gern an meinen Nachfolger/meine Nachfolgerin weiter. Im September nächstes Jahr werde ich ihn/sie bei der offiziellen „Amtsübergabe“ treffen 🙂
Das ist schon über 20 Jahre her, damals hatte ich als Schüler des AMGs einige Klassenkameraden, die im Konvikt wohnten und auch Feiern organisierten. Das war immer super!..;-)
Liebe Carola, ich freu mich sehr, dass du den Ausflug nach Tübingen noch geschafft hast! Hat sich doch gelohnt, gell? 😉
Ja, schade, dass es schon vorbei ist mit dem Rottweil-„Abenteuer“. Deine Geschichten dazu waren ganz wunderbar! Schön, dass wir dich dadurch begleiten konnten!
Hab eine gute letzte Woche und behalte die Worte vom alten Hermann H. in Gedanken:
„Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“
P.S. Dank für den Musiktipp! 🙂
Liebe Ulrike,
Tübingen war ein sehr guter Tipp, Danke! 🙂
Ganz lieben Dank für die netten Worte! (*Werbeblock-Anfang* Zum etwaigen Weiterlesen empfehle ich natürlich die Bücher *Werbeblock-Ende* 😉 )
Liebe Grüße aus Rottweil,
Carola
PS: Könnte es sein, dass wir einen ähnlichen Musikgeschmack haben? 😉